Das Buch
Stefan Wintermantel
Die Belsener Kapelle
Eine archäoastronomische, ikonographische und metrologische Annäherung
104 Seiten, 78 Abbildungen, umfangreiche Literaturangaben
Format 19,5 cm x 27 cm, Hardcover
Mauser & Tröster, Mössingen, Mai 2014
ISBN: 978-3-941500-16-7
Preis: 19,80 €
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Um zu einer Gesamtdeutung der Belsener Kapelle zu gelangen, ist eine interdisziplinäre Betrachtungsweise erforderlich. Nach dem Einführungsteil, der sich u. a. auch mit dem ungewöhnlichen Patrozinium (St. Maximin und Johannes) befasst, nähert sich das Buch ihren Geheimnissen deshalb auf drei Wegen an:
Archäoastronomische Untersuchung
Gegenstand der archäoastronomischen Forschung sind die astronomischen Hintergründe historischer oder prähistorischer Befunde. Das populärste Beispiel ist Stonehenge.
Rundfenster (Oculi) kommen an mittelalterlichen Kirchen häufig vor. Sie dienen meist nur allgemeinen Beleuchtungszwecken und können in der Regel kein archäoastronomisches Interesse beanspruchen. Am Sonnenloch der Belsener Kapelle ist jedoch nicht nur die ungewöhnliche Position seitlich des Chors auffällig. Es unterscheidet sich im Aufbau auch grundsätzlich von den beiden noch vorhandenen romanischen Fenstern, da seine Wandungen im Querschnitt nicht aus zwei, sondern aus drei Steinen aufgebaut sind. Der mittlere Stein verengt den Durchmesser der Lichtöffnung von 19 cm weiter bis auf 14 cm. Dieses Maß ist genau auf die Abbildungsverhältnisse bei der Projektion des Sonnenaufgangs ins Bogenfeld des Westportals abgestimmt.
Um den Strahlengang beim Sonnenaufgang zur Zeit der Tag-und-Nacht-Gleiche zu berechnen, muss zunächst die genaue Position des Sonnenaufgangs und seine räumliche Beziehung zur Kapelle ermittelt werden. Anschließend lässt sich aus der Lage des Türbogens relativ zur Lichtöffnung der genaue Projektionsort errechnen. Die Berechnungen bestätigen die Legende insoweit, dass das Sonnenloch das Licht der aufgehenden Sonne zur Zeit der Frühlings-Tag-und-Nacht-Gleiche tatsächlich ungefähr in die Mitte des Bogenfelds warf. Die Abbildung zeigt die Verhältnisse um den 21. März 2013. In diesem Zusammenhang wird auch der Frage nachgegangen, unter welchen Umständen im Türbogen tatsächlich ein Lichtkreuz zu sehen war.
Der 21. März galt bereits im Mittelalter als Frühlingsanfang; tatsächlich hatte sich die wirkliche Tag-und-Nacht-Gleiche aber aufgrund des Fehlers im damals gültigen Julianischen Kalender ungefähr in die Monatsmitte verschoben. Zur Ausrichtung des Sonnenlochs musste der Baumeister den wirklichen Termin zumindest annähernd kennen. Woher hatte er dieses Wissen? Die Spurensuche führt zu einem Kalender der Benediktiner mit dem Eintrag zum 16. März: „EQUINOCTIUM MODERNORUM”, sinngemäß: „Tag-und-Nacht-Gleiche der modernen Astronomen”, und zu einem Hirsauer Abt, der sich in jungen Jahren astronomischen Studien gewidmet hatte.
Der theologische Hintergrund ist in der mittelalterlich-christlichen Sonnensymbolik zu suchen, die eng mit dem Thema Auferstehung und Osterfest verknüpft ist.
Ikonographische Untersuchung
Die Ikonographie befasst sich mit der Beschreibung und Deutung bildlicher Darstellungen. Von den zahlreichen Deutungsversuchen der Belsener Steinreliefs, die im Buch ausführlich diskutiert werden, konnte sich bislang keine überzeugend durchsetzen. Die theologischen und wissenschaftlichen Hintergründe des Sonnenlochs erlauben jedoch eine plausible Interpretation der verschiedenen Darstellungen an der Belsener Kapelle.
Am deutlichsten wird dies am Tympanon an der Außenseite des Westportals, in dessen inneren Türbogen der Sonnenaufgang zur Tag-und-Nacht-Gleiche abgebildet wird. Deswegen soll an dieser Stelle kurz auf die auffälligsten Zusammenhänge eingegangen werden (siehe Abbildung). Die Fläche des Tympanons wird in der Mitte durch ein lateinisches Kreuz in zwei Hälften geteilt. Die eingeritzten bzw. eingemeißelten Ornamente zu seinen Seiten – sieben Strahlenkreise links und ineinanderlaufende Kreisformen rechts – werden meist als Darstellungen von Sonne und Mond gedeutet, die zum Kanon romanischer Kreuzdarstellungen gehören.
Von besonderem Interesse sind die Rautenketten oberhalb und unterhalb eines queren Steinwulsts über dem Tympanon-Unterrand. Die grün gezeichneten Rauten sind in Längsrichtung deutlich größer als die roten Rauten. Dies lässt sich nur damit erklären, dass die Anzahl der Rauten in den verschiedenen Rautenketten mit einer besonderen Bedeutung unterlegt ist. Die untere Reihe (rot) zählt 31 Rauten; die Mittelachse des Kreuzes trifft die 16. Raute. Hier ist der angenommene Termin für die Tag-und-Nacht-Gleiche eingemeißelt, das EQUINOCTIUM MODERNORUM am 16. März! Der März hat 31 Tage; der 16. März wird durch die 16. Raute unterhalb des Kreuzes dargestellt, entsprechend der Projektion des Sonnenaufgangs zur Tag-und-Nacht-Gleiche in die Mitte des Türbogens der Innenseite. Der Sonnenaufgang findet ungefähr nach Ablauf eines Viertels der gesamten Tagesdauer statt, von Mitternacht gerechnet. Deshalb wird die 16. Raute in Leserichtung (von links nach rechts) durch die Mittelachse ungefähr nach dem ersten Viertel geschnitten. Oberhalb des Steinwulsts sind es auf beiden Seiten des Kreuzes je zwölf Rauten (grün); das entspricht den zwölf Stunden der Nacht (vor Sonnenaufgang) und den zwölf Stunden des Tages (nach Sonnenaufgang).
Der Frühlingsanfang bestimmt auch den Zeitpunkt des Osterfests. In der Folge des Konzils von Nicäa (325) wurde das Osterfest auf den ersten Sonntag nach dem ersten Frühlingsvollmond festgelegt, wobei als Frühlingsanfang der 21. März galt. Um den Termin vorausberechnen zu können, wurde eine eigene mathematische Disziplin entwickelt, der Computus. In diese Osterrechnung flossen das Sonnenjahr (wegen des Frühlingsanfangs), die Mondphasen (wegen des Vollmonds) und die sieben Wochentage (wegen der Sonntagsregel) ein. Die Darstellungen am Tympanon geben genau diese Grundlagen des Computus wieder: die ineinanderlaufenden Kreisformen (Mondphasen) auf der rechten Seite und die Sonnen (Sonnenjahr) auf der linken Seite, und zwar insgesamt sieben (Wochentage), von denen die erste (Sonntag, erster Tag der Woche) besonders gekennzeichnet ist.
Metrologische Untersuchung und Grundrissanalyse
Die Metrologie beschäftigt sich mit Maßen und Maßsystemen. Im Bauwesen des Mittelalters war die gebräuchliche Maßeinheit in Deutschland der Fuß, dessen Länge jedoch weit differierte. Um die Planungsmaße zu ermitteln, auf denen der Grundriss der Kirche aufbaut, muss zuerst das damals verwendete Werkmaß bestimmt werden. An der Belsener Kapelle war das bisher noch nie versucht worden. Einen entscheidenden Hinweis liefern die beiden Portale auf der West- und Südseite, die nach einem einheitlichen Maßsystem konstruiert sind, das auf ein Fußmaß mit ca. 33,17 cm Länge schließen lässt. Es liegt damit in einer Größenordnung, die von verschiedenen Autoren auch an anderen mittelalterlichen Kirchenbauten angenommen wurde.
Nach der Bestimmung des Werkmaßes kann ermittelt werden, auf welche Größe im Fußmaß die einzelnen Abmessungen, wie z. B. Breiten- und Längenmaße, bei der Planung festgelegt wurden. Es stellt sich heraus, dass offenbar Maßzahlen mit zahlensymbolischer Bedeutung bevorzugt wurden. Außerdem zeigt die genaue Analyse des Kirchengrundrisses, dass bei der Planung auch geometrische Figuren eine Rolle spielten. Beispielsweise bilden zwei gleichseitige Dreiecke die Grundlage für das Außenmaß des Kirchenschiffs, während das Innenmaß von der Außenseite der Westwand gemessen durch ein 24 Fuß breites Rechteck mit einem Seitenverhältnis von 2 : 1 bestimmt wird.