Die Belsener Kapelle – Zitate

Zeichnung von Sattler (1752)

In den mehr als drei Jahrhunderten seit der ersten Erwähnung durch Osiander im Jahr 1678 war die Belsener Kapelle Gegenstand unzähliger Beschreibungen und Deutungen. Eine kleine Auswahl von teilweise sehr originellen Zitaten soll die – gar nicht gradlinige – Entwicklung aufzeigen, die die Sicht auf die Kapelle im Lauf der Zeit genommen hat.

Man siehet diese Heydnische Figuren aussen an dem Kirchlein noch jetzo, nemlich einen sich verkrattelnden Mann mit denen Ochsen- und Kälber-Köpfen. Auch wird noch der Altar mit denen Löchern gezeiget, daran das Opffer-Vieh solle gebunden worden seyn. So ist auch hart daran der sogenannte Farren-Berg, auf welchem das Opffer-Vieh solle gewaydet haben.

Andreas Christoph Zeller: Ausführliche Merckwürdigkeiten der hochfürstl. würtembergischen Universität und Stadt Tübingen, Tübingen, 1743, S. 633 f.

Allein das oben und unten befindliche Creutz machet mehr Schwürigkeit, es wäre dann, daß man behaupten könnte, dise Bilder stellten den Abgott Thor vor, [...] welcher auch eine ungeheure Schlange mit einem Hammer überwunden, der einem Creutz ähnlich sehe, welches ihm zu einem Siges-Zeichen, wie unserm Heyland das Creutz dienen müssen. Wiewohl auch zu erweisen ist, daß die Egyptier vor unsers Heylandes Geburth und Leyden das Zeichen des Creutzes schon gebrauchet [...].”

Christian Friderich Sattler: Historische Beschreibung Des Herzogthums Würtemberg, Stuttgart u. Esslingen, 1752, Teil 2, S. 49.

Weder Tempel noch Bilder sind ursprünglich deutsch, sondern römisch. [...] Belsen mit den umliegenden Grundstücken war eine Dotation und friedliche Niederlassung römischer Veteranen der 22sten Legion unter Caracalla. [...] Diese pflanzten hier den angeerbten ägyptischen Gottesdienst ihrer Legion fort, der ihnen ohnehin von Rom aus als Mode empfohlen war. Sie bauten den ägyptischen Gestirngöttern einen Tempel, sie weideten ihnen auf dem benachbarten Berge Farren, und opferten ihnen dieselbe nach ägyptischer Weise.

Gustav Schwab: Die Neckarseite der Schwäbischen Alb, Stuttgart, 1823, S. 295, S. 298.

Ich nehme meine früher ausführlich dargelegte Meinung, dass dieses interessante Bauwerk römischen Ursprunges sei, hier förmlich zurück, und kann sie jetzt nur für einen der ältesten Christentempel des Landes halten, dem die Erbauer einige Steine eines alten, der 22sten Legion angehörigen, römisch-ägyptischen Götzenaltars oder Tempels, Kuhköpfe, Widderköpfe und Zwerge in rohem Basrelief darstellend, als Trophäen in das Frontispiz eingemauert und das Siegerzeichen des Kreuzes darüber gesetzt haben. In den Mund des Volkes ist die Meinung der gelehrten Etymologen des sechzehnten Jahrhunderts übergegangen, die aus der Kirche von Belsen einen Baalstempel gemacht haben.

Gustav Schwab: Wanderungen durch Schwaben, Leipzig, 1837, S. 133 f.

Die größte Schwierigkeit machen die Kreuze, welche dreist für altchristliche Kreuze ausgegeben werden. – Aber je aufmerksamer ich sie an Ort und Stelle betrachtet, und wieder betrachtet habe, desto weniger konnte ich die vorgeblichen altchristlichen Kreuze erkennen: an beiden ist der rechte Querbalken länger als der linke, und in der Breite schärfer. Ich halte sie für Äxte oder Hauinstrumente, womit dem großen Opfervieh der Kopf abgehauen worden [...]. Die Umwandlung des heidnischen Tempels in eine christliche Capelle fällt von dem 8–9. Jahrhundert in eine Zeit, in welcher die unwissende Geistlichkeit jene Aexte der Aehnlichkeit wegen für christliche Kreuze gehalten haben mochte, welche die heidnischen Götzen oder Teufel unschädlich machten.

Carl Christian Gratianus: Die Ritterburg Lichtenstein, Tübingen, 1844, S. 136.

An der Giebelfronte nun sitzt über dem westlichen Hauptportal eine rohe Figur, beide Hände unterwärts breitend – das ist der segnend zu seinem Heiligthum einladende Herr. Weiter oben, in der Mitte des Giebels, sitzt eine ähnlich plumpe Figur mit über die Kniee gelegten Händen. [...] Das ist (Christus) der (ewige) Hohepriester [...] .”

Heinrich Merz: Übersicht über die hauptsächlichen alten Denkmale christlicher Architektur und Skulptur in Schwaben, in: Kunstblatt 26, 1845, S. 366.

Indessen ist die Verwendung von rein heidnischen Sculpturen für die Front einer christlichen Kirche schwer denkbar. Die vorhandenen Sculpturen, namentlich der Farrenkopf, verrathen eine spätere Hand. Die Figuren sind rohe Gebilde einer christlichen Symbolik, wie sie in der romanischen Bauperiode allenthalben zu treffen ist. [...] Die Kapelle ist zweifelsohne aus dem zwölften Jahrhundert.

Eduard Köstlin: Die Kapelle von Belsen, in: Christliches Kunstblatt für Kirche, Schule und Haus, 1867, S. 33–38, hier S. 34 f.

Über die obere Figur am Westgiebel: „Es ist der Steinmetze oder Baumeister, welcher mit beiden Händen den Grundstein zum "versetzen" (versenken) vor sich hält. Er zieht dabei die Fußspitzen (den Mittelfuß und die Zehen) zurück und stellt die Füße einwärts, damit er sich selbst beim Versenken des Steines nicht verletze [...].”

Fredegar Mone: Die Giebel-, Portal- und Bogenfeld-Reliefs an der Kapelle von Belsen, in: Diözesan-Archiv von Schwaben 10/8, 1893, S. 30.

Über die obere Figur am Westgiebel: „Das Gewand ist zwischen den Beinen eingesunken und die vermeintlichen Füße sind nur der aufwärts gewendete Saum. [...] Richtig beobachtet hat man längst, aber wunderlich gedeutet die merkwürdige Rundung des Unterleibes, der ganz unten sofort sich hoch erhebt und dann dort verflacht, wo man eigentlich die Schwellung erwartet. [...] Dargestellt ist ein Früchtekorb, der von den flach angelegten Händen im Schoße gehalten wird; so erklärt sich auch das auffällige Spreizen der Beine. Die weibliche Gestalt ist die Göttin Herecura, in knapp anliegendem glatten Gewande [...].”

Gotthold Gundermann: Römische Bildwerke an der Belsener Kapelle, in: Fundberichte aus Schwaben 11, 1903, ersch. April 1904, S. 65–73, hier S. 72.

Über die Fußhaltung der oberen Figur am Westgiebel: „Die nach innen, nach der Mitte des Steines zu, gerichteten Ansätze unten an den Beinen sind natürlich nicht als Füße zu erklären, denn eine solche Fußstellung wäre, zumal für eine sitzende Figur, ganz unmöglich. Die (jetzt abgesplitterten) Füße werden vielmehr nach außen gerichtet gewesen sein, und das, was jetzt als einwärts gedrehte Füße erscheint, ist offenbar nichts anderes, als der Überrest einer schmalen Leiste, die der Figur als Fußbank diente.

Jan Fastenau: Die Romanische Steinplastik in Schwaben, Esslingen, 1907, S. 53.

Über die Skulpturen am Westgiebel: „Alle sind unter das oben eingefügte Kreuz gestellt. Das ist das Wesentlichste. Sie stammen also aus einem älteren Bau, wo sie gewiß mit anderen zusammen ein großes Relief gebildet haben, das [...] ein Tieropfer dargestellt hat.

Peter Goessler: Germanisch-Christliches an Kirchen und Friedhöfen Südwestdeutschlands, in: Archiv für Religionswissenschaft 35, S. 65–92, hier S. 86.

Über dem Tympanon des Westportals finden wir zunächst einen ziemlich verwitterten Vertreter des ‚homo genitalia sua ostendens’. Darüber erscheint in der Höhe am Giebel in der Mitte ein zweiter entsprechender ‚homo’ [...].”

Georg Troescher: Die Bildwerke am Ostchor des Wormser Doms, in: Zeitschrift für Kunstgeschichte 21, 1958, S. 123–169, hier S. 157.

Obwohl das Tympanon von einer anderen Hand gestaltet zu sein scheint, schlage ich vor, an dieser Westfassade ein Gesamtprogramm verwirklicht zu sehen. Parallelen sind in dieser Zeit nicht häufig, immerhin zeigt die Westfassade der ehemaligen Abteikirche Saint-Jouin-et-Saint-Jean in Saint-Jouin-de-Marnes/Deux-Sèvres, wo der richtende Christus vor dem Triumphkreuz im Giebel erscheint, dass es das in der Mitte des 12. Jahrhunderts an romanischen Fassaden gibt. [...] Die Mitte nun, das Zentrum des Erlösungswerkes Christi, nämlich seine Menschwerdung, sein Tod und seine Auferstehung, sind in Belsen mitdargestellt. Letzteres, die Auferstehung, ist, wie wir wissen, im Triumphkreuz des Bogenfeldes mitgemeint, Geburt und Tod aber, dafür trete ich ein, sind im Giebel wiedergegeben: In der Mitte 'liegt' das Christkind in der Krippe, darüber, das will heissen dahinter, stehen Ochs (links) und Esel (rechts) und zu beiden Seiten der Krippe die 'Vertreter' der Herden auf den Feldern von Bethlehem, nämlich zwei Schafe und ein Rind.

Pietro Maggi: Das schlichte Tympanon im 12. Jahrhundert. Ein Beitrag zur Deutung allegorischer Skulptur an mittelalterlichen Kirchenportalen, Dissertation Universität Zürich, 1986, S. 80 ff.